John Coltrane - Live Trane - The European Tours
In den Jahren 1961, 1962 und 1963 tourte John Coltrane durch Europa und führte den aktuellen Stand seiner Künste vor. Das Publikum reagierte entweder euphorisiert, ratlos oder verschnupft wie in Paris, wo man Münzen auf die Bühne des Olympia warf. Andererseits stammen von europäischen Kritikern besonders einsichtige Analysen und Lobeshymnen, die den in den Staaten von der Kritik nicht Verwöhnten den Aufenthalt in Europa versüßten. Coltrane selbst war mit der Leistung seiner Band so zufrieden, dass er bei der ersten Europa Tournee ihre Gehälter erhöhte.
Wer wollte, konnte sich schon vor dieser 7-CD-Box ein Bild machen – allerdings mehr schlecht als recht: "The Paris Concert", "Bye Bye Blackbird", "The European Tour" und "Afro Blue Impressions" sowie der Sampler "The Best Of John Coltrane" hießen jene mehr Verwirrung als Klärung stiftenden Pablo-Alben, auf denen Kostproben des Materials bereits veröffentlicht worden waren. Dabei ließen die Herausgeber jedoch wenig Durchblick über die eigenen Schätze erkennen. "The Paris Concert" etwa wurde auf 1961 oder 1962 datiert, es enthält in Wirklichkeit Material aus zwei verschiedenen Pariser Konzerten der Jahre 1962 und 1963. Auf "Afro Blue Impressions" behauptete Norman Granz, im zweiten Jahr sei Eric Dolphy mit von der Partie gewesen – Dolphys Beteiligung erfolgte aber im ersten Jahr.
Daher war diese Edition in ihrer chronologischen Ordnung und mit richtiger Datierung schon lange fällig! Sie enthält etwa viereinhalb Stunden zuvor unveröffentlichter oder nur auf Bootlegs zugänglicher Schätze und lässt Coltranes musikalischen Entwicklungsgang in einem zwar nicht überraschend neuem, jedoch etwas anderem Licht erscheinen als es der gewöhnlich nur auf die offiziellen Impulse-Aufnahmen fixierte Blick wahrnimmt.
Der "Impulse-Studio-Coltrane" um 1962 ist der erstaunlich konservative Musiker, den wir auf "Ballads" und auf den Alben mit Johnny Hartman oder Duke Ellington bewundern können: ein feinsinniger Lyriker. Der "Pablo-Live-Coltrane" jener Zeit liebt das Experiment auf offener Bühne, verausgabt sich und nimmt keinerlei Rücksicht auf den Publikumsgeschmack. Der Impulse-Coltrane verfügte über ein reichhaltiges Repertoire. Wer hätte da gedacht, dass der Live-Coltrane nicht daraus schöpfte, sondern wie ein Besessener durch Marathon-Versionen der immer gleichen Stücke jagte. Auf den 7 CDs erleben wir sechs mal "My Favorite Things", fünf mal "Impressions", fünfmal "Mr. P.C.", viermal "Naima".
Für nur am Rand an Coltrane Interessierte ist dies freilich eine Geduldsprobe, für den Coltrane-Verehrer ist es Training und Trip zugleich, diese Versionen untereinander und mit jenen aus dem "Village Vanguard" und dem "Birdland" zu vergleichen. Die unbekannten Versionen stehen hinter den bekannten nur selten zurück.
Da auf Pablo bislang noch gar kein Material von der ersten Europa-Tournee veröffentlicht wurde, erregt es die meiste Aufmerksamkeit: Die Aufnahmen aus Hamburg, Stockholm und Paris schließen sich im Charakter nahtlos an die nur wenige Tage älteren "Village-Vanguard"-Aufnahmen an. Sie sind daher ein wichtiges Dokument der bislang zu wenig gewürdigten Zusammenarbeit John Coltranes mit Eric Dolphy. Es handelt sich um die Begegnung mit einem gleichrangigen, stilistisch andersgearteten, aber nicht weniger innovativen und eigenständigen Saxofonisten. Dass der frei chromatisch empfindende Dolphy Coltranes Konzeption des modalen Jazz nicht ganz unterschreiben konnte – er improvisiert über hinzugedachte Harmoniegerüste – macht den Kontrast zwischen Trane und Dolphy besonders spannend.
Dolphys Spiel zeugt kaum weniger von Besessenheit und Getriebenheit als das Coltranes. In rasenden Läufen voller unerwarteter Intervallsprünge, Wendungen und Atempausen hüpft und windet er sich scheinbar atonal durch harmonische Labyrinthe, die um ein Vielfaches komplexer sind als ihr statischer Hintergrund. Dabei gackert, kreischt und blökt er auf Saxofon und Bassklarinette wie eine aufgescheuchte Menagerie.
Sich gegenseitig zu Höchstleistungen anstachelnd werden Coltrane und Dolphy von Elvin Jones und dem Bassisten Reggie Workman vor sich hergetrieben. Wie bei den "Village"-Aufnahmen ist Tranes Sound aufgeraut, ja alle traditionellen Vorstellungen saxofonistischen Schönklangs sind völlig über den Haufen geworfen. Coltrane schreit, rast, tobt, bebt mit einer selten zuvor so stark entwickelten Eruptivkraft auf dem Saxofon; der Klang ist beißend scharf, trübt sich oder quäkt. Die sich überschlagenden Stimmen von Gospelpredigern, die Intensität von Schlangenbeschwörern spiegeln sich in seinem Sound.
Zugleich ist Coltranes Konzeption in vielerlei Hinsicht einfacher als Jahre zuvor. Der Pianist McCoy Tyner schichtet Akkorde aus Quarten und Quinten, zu denen man nahezu alles spielen kann. Aber Freiheit macht Angst. Den Zeitgenossen wird bang; Trane fängt zu dieser Zeit an, alte Freunde seiner Musik zu verwirren, zu verlieren. Nicht zuletzt daher die Diskrepanz zwischen den Live- und den Studio-Alben!
Schon 1962 gingen Coltrane und Dolphy auseinander und das legendäre Coltrane-Quartett mit Tyner, Jones und dem Bassisten Jimmy Garrison war geboren. Dieser Formation verdanken wir alle übrigen Aufnahmen der Edition. Jene des Jahres 1962 sind größtenteils unveröffentlicht, darunter Mitschnitte aus Paris und Stockholm. Überraschende Momente sind immer wieder darunter. "Naima", einst eine zarte Ballade, wird endgültig zum Gegenstand rabiaten Power-Plays – etwa zu jener Zeit ging auch Coltranes Ehe mit Naima in die Brüche. Von den Aufnahmen des Jahres 1963 waren hingegen wenige unbekannt, darunter ein Stuttgarter "Impressions" von erstaunlichen 27 Minuten Länge.
Das sieben CD-Set liegt auf MyPlay -->> Bei Interesse PN !